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Agilität und Stress - neu betrachtet seit COVID-19

Ziemlich genau drei Monate ist es her, dass ich einen Blog-Artikel geschrieben habe mit dem Titel: "Agil: schnell, flexibel … und gestresst?" [hier lesen]

Das war - zumindest in der allgemeinen Wahrnehmung hierzulande - "vor Corona". Veröffentlicht wurde mein Gastbeitrag im Blog von microTOOL vereinbarungsgemäß einen knappen Monat später, am 23. März. Also "nach Corona", zehn Tage nach diesem 13. März, an dem wir alle wussten: Jetzt wird auch in Deutschland erstmal alles anders.

 

Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung erschien mir mein Artikel plötzlich merkwürdig fehl am Platze. Agilität, Stress, Flexibilität: Das alles hatte eine ganz andere, viel akutere und konkretere Bedeutung bekommen.

Stress war fast überall, gleichzeitig eine merkwürdige Ruhe und Lähmung an vielen Stellen. Flexibilität brauchten wir jetzt alle, mit jedem Schritt und jedem Handgriff: Kann ich noch zur Arbeit? Wen darf ich noch treffen, wen kann ich wie erreichen? Wo bekomme ich Nudeln und Klopapier? Bloß nicht ins Gesicht fassen, ständiges Händewaschen - und wie funktioniert das jetzt alles mit Homeoffice, Videokonferenzen etc.?

Ja, diese erzwungene Flexibilität bedeutete Stress, denn all unsere Muster, Gewohnheiten und Routinen funktionierten nicht mehr, alles dauerte länger und musste neu erdacht werden. Das macht keinen Spaß, belastet das Miteinander, bedeutet Kontrollverlust und macht uns zum "Spielball" der Pandemie - alles Aspekte, die unsere psychischen Grundbedürfnisse beeinträchtigen und uns daher auch nicht kalt lassen.

 

In dieser Situation in meinem Blog-Artikel von "drei großen Missverständnissen zum Thema Agilität" zu reden und neunmalklug auf das Agile Manifest und den Scrum Guide als wichtige Bezugspunkte zu verweisen, schien auch mir so absurd, dass ich ihn kaum geteilt habe.

Jetzt, gut zwei Monate später, sind wir alle viele Erfahrungen und wohl auch viele große Schritte weiter. Zeit, das Thema neu zu betrachten.

 

"Was seither geschah ..." - es hat sich vieles geändert. Und wie ich von vielen Seiten höre: In all der Krise mit ihren schwierigen und für viele auch persönlich, gesundheitlich und wirtschaftlich teils dramatischen Auswirkungen, vieles auch durchaus zum Positiven. Vorher unmöglich erscheinende Digitalisierungssprünge, Homeofficemöglichkeiten, fantastische Erweiterungen und Stärkungen persönlicher Netzwerke, neue Synergien, eine ganz neue Wertschätzung "systemrelevanter" Berufe, die Erkenntnis, dass nicht nur das neueste SUV, sondern auch ein wunderbarer Spaziergang Glücksgefühle hervorrufen kann ... darüber ließe sich wohl mehr als ein Blog-Artikel schreiben.

 

Dabei haben wir wohl alle auch eines gemerkt: Wir brauchen Flexibilität und die methodische und mentale Fähigkeit zur schnellen Anpassung, um gemeinsam, erfolgreich und eben nur maßvoll gestresst durch die Krise zu navigieren. Und wir lernen und wachsen daran, enorm, als Einzelne und als Gesellschaft.

 

Ob explizit unter dem Label "Agilität" oder einfach aus einer natürlichen oder bewusst etablierten solchen Haltung heraus: Wer in der Krise agil zu reagieren wusste und weiß, ist deutlich besser aufgestellt, den "Stresstest" zu bestehen.
Ob in Unternehmen, der Politik und Verwaltung oder sogar der medizinischen Wissenschaft (meinem früheren Berufsumfeld) - es ist deutlich zu sehen: Agile Prinzipien haben Hochkonjunktur und bewähren sich, sowohl praktisch als auch menschlich.

 

So sehe ich mich in der Botschaft meines Artikels bestärkt: "Agile" ist keine Ursache für mehr, sondern ein gutes Rezept für weniger Stress, unternehmerisch wie individuell. Und paart sich gut mit Resilienz.
Spätestens in der Krise - und die nächste kommt bestimmt ...