· 

Psychische Grundbedürfnisse: Was wir wirklich brauchen

Wer gut auf sich achten möchte, wer wissen möchte, wohin er sein Leben steuern möchte und was er braucht, um resilient, glücklich und zufrieden zu sein, der sollte seine Bedürfnisse im Blick haben. Doch nicht immer ist es leicht, diese wirklich zu erkennen und zu verstehen. Sehr hilfreich und einleuchtend - wenn auch leider erstaunlich wenig bekannt - werden unsere psychischen Grundbedürfnisse in einem Modell beschrieben, auf das moderne Formen der Psychotherapie wesentlich Bezug nehmen.

Mich hat das Modell sehr überrascht, weil es in teils krassem Kontrast zu unserer Erziehung steht - und finde es so wichtig, dass ich es gerne hier vorstellen möchte.

 

Jeder Mensch hat Bedürfnisse - körperliche und psychische

Dass der Mensch Bedürfnisse hat, weiß und spürt jeder. Oft denken wir dabei an die offensichtlichen, körperlichen Dinge: essen, trinken, schlafen, zur Toilette gehen etc. Oder auch an materielle Dinge: ein Dach über dem Kopf, schicke Kleidung, ein cooles Handy.

Gleichzeitig wissen wir: Da ist mehr. Selbst wenn körperlich alles in Ordnung ist und wir die Dinge haben, die uns wichtig sind, geht es uns nicht immer auch seelisch gut. Was fehlt da? Lässt sich das greifen?

Sehr bekannt zu dem Thema ist die Bedürfnispyramide nach Maslow, einem US-amerikanischen Psychologen, der sich mit menschlicher Motivation beschäftigte, aus den Jahren 1943-70. Maslow unterscheidet Grundbedürfnisse (Essen, Schlafen, Trinken, Sex etc.), die Bedürfnisse nach Sicherheit (Wohnen, Arbeit, Gesundheit), nach sozialer Einbindung (Freundschaft, Liebe, Zugehörigkeit), nach Einfluss und Anerkennung sowie nach Selbstverwirklichung. Genau, das kommt der Sache schon viel näher. Denn auch wenn seine Theorie nicht im engen Sinne wissenschaftlich ist: Das Modell sortiert für uns in einem Überblick, welche Bedürfnisse wir bei uns selbst und bei anderen in der Welt wahrnehmen. Neben Grundversorgung und Sicherheit brauchen wir die Nähe anderer Menschen und wollen auch selbst eine Rolle im Leben spielen.

 

Psychische Grundbedürfnisse - was ist das?

Wer diese letzteren, psychischen Grundbedürfnisse besser verstehen möchte, findet dazu eine sehr einleuchtende, weithin anerkannte und empirisch gut belegte Beschreibung bei Klaus Grawe, einem bedeutenden deutschen Psychotherapieforscher. Er versteht darunter ausdrücklich solche Bedürfnisse, die "bei allen Menschen vorhanden sind und deren Verletzung oder dauerhafte Nichtbefriedigung zu Schädigungen der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens führen". Das Konzept ist auch neurobiologisch fundiert. Grawe benennt die vier psychischen Grundbedürfnisse

  • nach Orientierung und Kontrolle,
  • nach Lustgewinn und Unlustvermeidung,
  • nach Bindung,
  • nach Selbstwerterhöhung und Selbstwertschutz.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie das lesen? Ich muss sagen: Als ich dem das erste Mal begegnete, war ich ziemlich baff. Klar, wir haben diese Bedürfnisse, ich habe sie, ohne Zweifel. Aber dass dies anerkannte psychische Grundbedürfnisse sein sollten, deren Verletzung erklärtermaßen krank machen kann, das erschien mir doch angesichts klassischer Erziehungsmethoden und der Realitäten an so manchem Arbeitsplatz als wohlignoriertes Geheimnis. Und: Es machte mir Mut, gezielt auf diese Bedürfnisse zu achten.

Schauen wir uns diese vier psychischen Grundbedürfnisse dazu doch mal näher an.

 

Wir haben gern Orientierung und Kontrolle

Ob es um unseren Tagesablauf, unsere Zukunft, unsere Arbeit oder unseren Haushalt geht: Wir wissen gern, was Sache ist. Wenn wir einen Vertrag abschließen oder unser Handy bedienen, wollen wir wissen, was uns erwartet. Wir möchten planen und uns auf andere verlassen können, wir wollen das System und die Rahmenbedingungen verstehen, in denen wir uns bewegen, und wir wollen selbst entscheiden können, welchen Beruf wir ergreifen, was wir kaufen, wo und mit wem wir wohnen. Und natürlich wollen wir selbst Einfluss nehmen können: mit Taten und mit Worten.

Das ist die Orientierung und Kontrolle nach außen. Aber auch die Kontrolle nach innen, über den eigenen Körper und die eigene Psyche, ist wichtig: Wir möchten uns frei bewegen, verlässlich unsere Sinne nutzen und unseren Körper gut versorgen können, und wir wollen verstehen und beeinflussen können, warum es uns mal gut und mal schlecht geht.

 

 

Wir suchen nach Lust und vermeiden Unlust

"Hast du Lust ...?" Diese Frage können wir oft ganz spontan und intuitiv beantworten, sozusagen aus dem Bauch heraus, aus dem aktuellen Gefühl. Denn so wie Hunger, Durst und Müdigkeit uns signalisieren, dass wir essen, trinken oder schlafen sollten, sagen uns auch in vielen anderen Fragen unsere Gefühle, ob uns etwas anzieht oder eher abschreckt. Das ist auch gut so, dazu sind sie da! Als Menschen können und wollen wir aber über den Augenblick hinaus denken und planen, sind also gut in der Lage, 'Durststrecken' der Unlust hinzunehmen, wenn dafür Attraktives lockt. Wir lernen lange für einen Schul- oder Berufsabschluss. Unsere Arbeit macht nicht immer Spaß, aber sie bringt uns ein Einkommen und eine Rolle im Leben. Und auch beim Sport beißt man so manches Mal die Zähne zusammen, mit der Aussicht auf Fitness oder persönliche Erfolge. Klar ist aber: Niemand sollte von sich oder anderen erwarten, angesichts von Unlust und ohne Aussicht auf einen persönlich relevanten Lustgewinn energievoll an eine Aufgabe herangehen zu können.

 

Das Bedürfnis nach Bindung liegt in unserer Natur

Wir leben in Familien, haben Freunde und eine Gemeinschaft, der wir uns zuordnen - auch wenn dies heute viel komplexer geworden ist als zu Zeiten, als das nächste Dorf nur mit Aufwand zu erreichen und kulturelle Zugehörigkeit keine Frage der Wahl war. Freunde haben wir heute auch über Facebook, vielleicht am anderen Ende der Welt; wichtig ist uns das allemal.

Der Mensch ist ein soziales Wesen, daran besteht kein Zweifel. Unser Gehirn ist darauf spezialisiert, mit anderen zu kommunizieren und den Überblick über die sozialen Beziehungen in der Gruppe zu behalten. Ebenso unser Körper: Stimme, aufrechter Gang, frei bewegliche Hände und ein durch wenig Behaarung und sichtbares Augenweiß sehr ausdrucksvolles Gesicht sind ein paar Beispiele dafür. Auch unsere Hormone, z.B. das 'Kuschelhormon' Oxytocin, sorgen dafür, dass Nähe mit Wohlgefühl verbunden ist.

Liebe und familiäres Glück zählen für viele Menschen zu den wichtigsten Lebenszielen. Verletzungen des Bindungsbedürfnisses in der Kindheit, z.B. in Form von Mangel an Zuwendung, Unberechenbarkeit oder Missbrauch, prägen uns meist ein Leben lang - und können uns dann sehr im Wege stehen. Ziehen sich Menschen ganz aus der Gesellschaft zurück, so geschieht dies meist aus Angst vor Enttäuschung oder aufgrund starker religiöser Überzeugungen.

 

 

Wir möchten unseren Selbstwert entwickeln und schützen

"Eigenlob stinkt" - aber natürlich möchten wir etwas wert sein und Anerkennung finden! Wir sind neugierig, lernbegierig und auch ein bisschen eitel - das alles liegt aus gutem Grund in unserer Natur. Es bringt uns und unsere Gemeinschaft voran und sichert unser Überleben und unsere Fortpflanzung. Also tun und lernen wir gerne das, worin wir gut sind, kleiden uns gern schick und umgeben uns mit schönen Dingen, mögen Lob, Titel und Statussymbole. "Bescheidenheit ist eine Zier, weit besser lebt sich's ohne ihr" wusste schon Wilhelm Busch - und beschrieb damit wunderbar kurz den inneren Konflikt, vor den uns das stellt.

Klare Daumenregel: Jeder darf seinen eigenen Wert hoch halten, aber nicht unbedingt über andere - und Wertschätzung zu geben ist für beide Seiten nicht nur ein angenehmes Erlebnis, sondern öffnet viele neue Türen ...

 

Fazit

Dass wir - kurz gesagt - gerne Spaß haben, unser Leben im Griff haben wollen und uns die Zuneigung und Anerkennung anderer wichtig ist, das wissen wir sicher selbst schon längst. Dass dies anerkanntermaßen "psychische Grundbedürfnisse" sind, die erfüllt sein wollen und deren dauerhafte Verletzung oder Nichtbefriedigung uns ebenso anerkanntermaßen schädigt, darf uns ermutigen und inspirieren, diesen Bedürfnissen mehr Raum zu geben. Und ist vielleicht der Schlüssel dazu, warum es in mancher Beziehung und an manchem Arbeitsplatz einfach noch nicht klappen will - und wie sich das lösen ließe!

 

Tipps für Ihren Alltag

  • Denken Sie bei Ihrer Tagesplanung - besonders am Wochenende! - an Ihre vier psychischen Grundbedürfnisse und bauen Sie sie ein: etwas für die Lust, etwas für die Bindung, etwas für das Gefühl der Kontrolle ...  Manchmal sind es Kleinigkeiten - genießen Sie sie bewusst!
  • Sehen Sie Konflikte in der Familie, unter Freunden oder mit Kollegen mal unter dieser Perspektive: Welches Bedürfnis könnte vielleicht jeweils dahinter stecken? Was könnten Sie mit Blick darauf tun, um ein bisschen 'Sand aus dem Getriebe' zu nehmen? Was für ein tolles Gefühl, wenn das funktioniert ... !
  • Welches Bedürfnis kommt bei Ihnen eindeutig zu kurz? Belassen Sie es nicht dabei, gehen Sie es gezielt an. Das mag ein Weilchen dauern, wird sich aber lohnen.